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Arztbesuche sind ja grundsätzlich eine unangenehme Angelegenheit. Und wenn der eigene Organismus dermaßen rumzickt, dass der nette, grauhaarige Hausarzt an der Ecke massiv überfordert ist, dann artet ein „Kommen Sie morgen früh mal zur Blutentnahme“ gut und gerne mal in eine Tour durch die gesamte Berliner Ärztelandschaft aus. Die Tatsache, dass diese Tour für Privatpatienten gratis ist, ist zwar nicht wirklich tröstlich, aber wenn die Blutwerte Amok laufen und das ratlose Gesicht des netten, grauhaarigen Hausarztes unweigerlich deutlich macht, dass die folgende Nacht eine schlaflose Nacht werden wird, dann wird man für gewöhnlich sehr genügsam.

Immer dann, wenn ein gesunder Optimismus gänzlich unangebracht ist, braucht man ihn am nötigsten und als ich binnen einer Woche von meinem netten, grauhaarigen Hausarzt zu einem Nephrologen, vom Nephrologen zu einem Gastroenterologen, vom Gastroenterologen zum Endokrinologen und vom Endokrinologen schließlich ins Krankenhaus überwiesen wurde, musste ich feststellen, dass Realitätsflucht durchaus sinnvoll sein kann…

Um die unerträgliche Frage danach, wie Radieschen von unten aussehen und die ebenso unerträgliche Vorstellung von kalter Friedhofserde auf meiner Haut erträglich zu machen, beschloss mein Bewusstsein kurzerhand Urlaub zu machen und es verabschiedete sich mit einem Last Minute Ticket nach ‚Optimismus Island‘.
Wenn du auf ‚Optimismus Island‘ Urlaub machst, dann kommt die drei Monate alte Ausgabe der ‚InTouch‘, die neben einer ebenso alten ‚Brigitte‘- Ausgabe auf dem großen Holztisch in der Mitte des Wartezimmers liegt, einer literarischen Offenbarung gleich. Auf ‚Optimismus Island‘ verwandelt sich das überfüllte Urban Krankenhaus in Neukölln in eine Luxusabsteige, die das Chateau Marmont wie eine Besenkammer aussehen lässt…

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Nachdem ich die ausliegende Wartezimmer – Lektüre ausgiebig studiert habe, versuche ich das geistlose Geschreibsel über fehlgeschlagene Beauty-OPs und Modetrends die ungefähr so haltbar wie eine Milchtüte in der Sonne sind, als eine Art soziokulturelle Studie über den Werteverfall in den USA zu betrachten und ich fühle mich gleich besser. Wenn man sich schon den Luxus eines ausgedehnten Urlaubes auf ‚Optimismus Island‘ leistet, dann darf die passende Urlaubslektüre selbstverständlich nicht fehlen. Links neben mir hat eine übergewichtige Mittfünfzigerin platzgenommen und ihr röchelnder Husten vermischt sich mit dem der übrigen Virenmutterschiffe, die im Sekundentakt den Raum frequentieren. In meinem Kopf erklingt die verzerrte Stimme der ‚Warp Brothers‘ und der Mantra-mässige Slogan ihres Acid-House Hits wird Eins mit dem Hustenbeat: „WE WILL SURVIVE!“

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Ich habe meinen desolaten Gesundheitszustand fast schon erfolgreich aus meiner Wahrnehmung verdrängt, als ein ziemlich lautstarkes Zwiegespräch zwischen einer Krankenschwester und einem neu eingetroffenen Patienten meine Aufmerksamkeit fordert. Der Mann ist vollkommen desorientiert. Unter seiner furchigen Gesichtshaut schimmert ein Spinnennetz aus dünnen, tiefroten Äderchen und seine Augenäpfel erstrahlen in einem eitrigen Gelb. Die Beharrlichkeit mit der er sich an eine halbleere Wodkaflasche klammert ist so erschütternd, dass ich mich fühle, als hätte ich einen heißen Stein verschluckt. Der Mann wimmert, als die Krankenschwester ihm behutsam die Flasche Fusel entwendet und plötzlich lächelt er mich an. Es ist als würde man einen Leichnam in seinem Sarg grinsen sehen und mein Urlaub auf ‚Optimismus Island‘ findet ein jähes Ende. Süchtige erkennen einander und auch wenn ich seit über einem Jahr clean bin, beginnt ein tiefes Mitgefühl meinen Körper zu fluten. In seinem Lächeln liegt die unwiederrufliche Erkenntnis, dass das Leben ihm in diesem Moment die rote Arschkarte zeigt und als die Krankenschwester mitsamt der Wodkaflasche das Wartezimmer verlässt, setze ich mich unvermittelt neben ihn. Ich überlege kurz, ob ich ihm von ‚Optimismus Island‘ erzählen soll, verwerfe den Gedanken aber gleich wieder. Er ist viel zu sehr mit den Promille, die in seinem Blutkreislauf fangen spielen, beschäftigt und würde sich sicherlich nicht auf meine kleine Fantasiereise einlassen. Außerdem möchte ich nicht das meine Hilfsbereitschaft am Ende dafür sorgt, dass mir auf meine internistischen Probleme auch noch neurologische obendrauf diagnostiziert werden. Ich habe keine Lust vom Krankenhaus schnurstraks in die geschlossene Psychiatrie verlegt zu werden. Aber ich habe eine andere Idee. Die ist zwar auch unkonventionell, plakatiert den Sprung in meiner Schüssel allerdings nicht ganz so offensichtlich wie die ‚Optimismus Island‘ – Nummer…

(to be continued)

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