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URLAUB IM WARTEZIMMER (Teil 2)

Ohne großartig darüber nachzudenken, zücke ich mein Portemonnaie, organisiere das nötige Kleingeld und steuere auf den Getränkeautomaten in der linken Ecke des Wartezimmers zu. Es gibt stilvolle Pappbecher, und wie es sich für ein renommiertes Urlaubsresort auf ›Optimismus Island‹ gehört, hat man die Qual der Wahl zwischen verschiedenen flüssigen Gaumenfreuden. Es gibt sogar eisgekühlten Orangensaft, und auch wenn es sich bei besagtem Saft eher um eine Mischung aus Zuckerwasser und künstlichen Aromen als um tatsächlichen O-Saft handelt, befülle ich einen grauen Pappbecher mit der gelben Plörre und kehre wieder an meinen Platz zurück.

Die hustende, übergewichtige Mittfünfzigerin ist zwischenzeitlich in die Pneumologie abkommandiert worden und ihr Platz in unserer feudalen Kliniklobby wird jetzt von einem jungen Anzugträger okkupiert. Er lächelt ein seelenloses Hollywood-Lächeln und der Blick, der durch das High Index- Glas seiner Gucci- Brille schießt, verrät deutliches Unbehagen. Das ist nicht weiter verwunderlich, weil der gute Mann erstmal den Baumstamm aus seinem Yuppie-Arsch ziehen müsste, um sich zwischen den hier anwesenden, erlesenen Dornen im Auge des deutschen Gesundheitsamtes wohlfühlen zu können. »Du bist ganz sicher ›Sohn‹ von Beruf.« denke ich grimmig und dann wende ich mich wieder dem Wesentlichen zu:

Ich habe eine Mission. Diese Mission sitzt links neben mir, duftet nach einer Mischung aus Schnaps und Pisse und ist offensichtlich kurz vorm Durchdrehen. Ich hole tief Luft, setze mein strahlendstes Honigkuchenpferdgrinsen auf und reiche dem Mann den Pappbecher. »Hier!«, raune ich leise und ich werfe ihm einen konspirativen Blick zu. Er zuckt zusammen und mustert mich fragend. »Screwdriver!«, erkläre ich verheißungsvoll. Der Mann umklammert den Pappbecher mit zitternden Händen und starrt in die gelbe Plörre. »Ist sogar gekühlt und die Mischung knallt ordentlich! Verlass`dich drauf.«

Für einen Moment lang frage ich mich, ob er meinen Täuschungsversuch bemerkt und was passiert, wenn er es tut, aber die Dankbarkeit in seinem Blick belehrt mich eines Besseren. – Es scheint beinahe so, als würde die Aussicht auf einen ordentlichen, eiskalten Screwdriver Inseln aus Licht in seine trüben Augen malen.

Er leert den Pappbecher in einem Zug und ein zufriedener Rülpser tropft von seinen rissigen Lippen. »Schullijung.«, lallt er und fährt sich beschämt durchs Gesicht. Mir ist vollkommen klar, dass meine Methode aus psychologischer Sicht ziemlich grenzwertig ist. Man sollte einen Süchtigen eigentlich von seinem Stoff ablenken, anstatt seine kaputten Gehirnzellen zu verscheißern und ihm billigen Orangensaft als einen Wodkacocktail zu verkaufen, aber – ganz ehrlich: Dieser Mann hier neben mir befindet sich auf einem sinkenden Schiff und das weiß er ganz genau. Und…wenn man sich auf einem sinkenden Schiff befindet, dann ist es zu spät für Ablenkung. Wenn man sich auf einem sinkenden Schiff befindet, dann kann man nur noch versuchen in Würde zu ertrinken und es handhaben wie die Herrschaften auf der Titanic: Wenn man sich auf einem sinkenden Schiff befindet, dann gibt’s Begleitmusik zum Absaufen.

Ablenken kann er sich immer noch. Und zwar dann, wenn er das Delirium tremens überlebt hat und von der Intensivstation in den Entzug und vom Entzug in die Entwöhnung überwiesen worden ist. Erstmal fährt er am besten, wenn seine Fantasie aus den weißen Mäusen, die er in nicht allzu ferner Zukunft sehen wird, ein paar fluffige Marshmallows macht. Erstmal muss er überleben, und wenn’s ums Überleben geht, dann spielt das ›Wie‹ keine Rolle mehr. Hauptsache es funktioniert und seine sichtlich entspannte Körperhaltung verrät mir, dass mein kleiner Trick definitiv funktioniert hat… Sein Kopf lehnt an meiner Schulter, die Hände haben für einen Moment lang aufgehört zu zittern, der leere Pappbecher fällt mir vor die Füße und ich fühle mich, als hätten wir gerade eben die letzten zwei Plätze im Rettungsboot ergattert…

Die abschätzigen Blicke der übrigen Anwesenden sind nicht mehr als ein Relikt aus einer fremden Realität, und als mein neuer Freund leise zu schnarchen beginnt, da habe ich fast vergessen, warum ich wirklich hier bin. Der Yuppie zeigt mir den Vogel und fummelt nervös an seinem IPhone herum. Ich hole ein vollgerotztes Taschentuch aus meiner Hosentasche und wische meinem neuen Freund vorsichtig den Sabber aus seinen Mundwinkeln. Von irgendwoher höre ich eine Frauenstimme meinen Namen rufen: »Frau Vorsmann bitte in Behandlungsraum 3.« Es dauert eine Weile, bis ich realisiere, dass ich die Kliniklobby nun verlassen muss und das selige Grinsen meines schnarchenden Nachbarn verleiht mir eine Entspanntheit, die unangemessener nicht sein könnte. Aber das ist unwichtig. Wichtig sind in diesem Moment nur drei Worte: »WE WILL SURVIVE«