Shirin Vorsmanns Kolumne

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Soulmates Never Die
(Teil 1)

Es ist Mittag, als ich erwache. Die zarten Glockenklänge, die Pink Floyd’s episches ›High Hopes‹ einläuten, finde ich an diesem Mittag weder zart noch episch. Ich finde sie grauenerregend. David Gilmour singt mit seiner sentimentalen Stimme von seinen ebenso sentimentalen Kindheitserinnerungen und erklärt mir mit träumerischer Unverfrorenheit, dass das Gras damals viel grüner und dass das Licht damals viel heller war. Meine Finger fahren über den blinkenden Touchscreen meines Handys und bringen Gilmour zum Schweigen.
»Hallo Realität! Ist ja nett, dass du vorbeischaust und mich daran erinnerst, dass sich meine Arbeit nicht von selbst erledigt, aber ich habe heute absolut keinen Bock auf dich. Könntest du bitte so freundlich sein und mich einfach in Ruhe lassen?!«
Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, inhaliere eine anheimelnde Mischung aus Nachtschweiß und ›Simply Jil Sander‹ und lausche dem Sound der Schnellstraße …
Motorengeräusche tragen mich sanft durch die erste Strophe, der Chorus fräst sich in Form von rhythmischem Gehupe in meinen Gehörgang und dann kommt die Bridge:

»Hömma zu, du Penis! Wenn du deine verfickte Rostlaube noch einmal vor meinem Laden abstellst, dann knallt`s!« –

Ali hat offenbar noch schlechtere Laune als ich und diese Tatsache beruhigt mich irgendwie.

Es gibt Tage, an denen die schlechte Laune deiner Mitmenschen einem Geschenk gleichkommt, weil sie dich daran erinnert, dass du mit deinem Frust und mit deinem Weltschmerz nicht alleine bist. – Sowas verbindet und schafft eine ganz besondere Form von Solidarität.

Während ich mir die Zähne putze beschließe ich, mich gleich bei Ali zu bedanken. Schließlich hat er mir mit seiner verbalen Hasstriade aus dem Bett geholfen:
Die depressive Schwere, die mich noch vor wenigen Minuten mit psychosomatischen Lähmungserscheinungen abgewatscht und in mein durchgelegenes Daunenkissen gedrückt hat, ist einer heilsamen »Fuck Off<< – Attitüde gewichen. Das habe ich ganz allein Ali zu verdanken.

Wenn es ein Messgerät für Stimmungen geben würde … So ein Ding, das die aktuelle emotionale Verfassung in zehn Stufen unterteilt, dann hätte mir Ali gerade eben dabei geholfen, Stufe 1 zu erklimmen. (Zur Erklärung: Stufe 0 steht für den Moment, in dem du ohne zu zögern aus dem Fenster springen würdest, sofern du dich dazu aufraffen könntest und Stufe 10 für den Moment, in dem deine Glückshormone den Friedensnobelpreis gewinnen.)

Ich werfe meinem Spiegelbild einen angewiderten Blick zu, schlüpfe in meine Sportklamotten, ziehe mir die Kapuze meines Wintermantels tief ins Gesicht und recke die Hände vor meinem geistigen Auge in die Höhe – vermutlich in der naiven Hoffnung die metallene Sprosse der Stufe 2 zu erhaschen, ehe ich als personifizierte tickende Zeitbombe das Haus verlasse… Wie naiv und vorschnell dieser waghalsige Versuch tatsächlich ist, wird mir nur wenige Sekunden später bewusst, als mein Handy klingelt:
»I ’m Deranged…Deranged My Love … I ’m Deranged…Down … Down … Down« – David Bowie kündigt einen eingehenden Anruf an und die fragile Zurückhaltung, mit der er seinen zerrütteten Geisteszustand besingt, bringt meine Tränendrüsen auf Hochtouren. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich mich ernsthaft fragen, ob ich schwanger bin. Ich bin ja dünnhäutiger als Pergamentpapier!
Ein scheuer Blick auf mein Handydisplay verrät mir, dass es sich bei dem Anrufer um meinen Chef handelt und irgendein letzter Rest von logischem Denken veranlasst mich dazu eine Vermeidungsstrategie zu fahren und so zu tun, als hätte das Telefon gar nicht geklingelt. Der gute Mann soll mich in ein paar Stunden nochmal an meine verpasste Deadline erinnern – bis dahin hat sich meine Stimmungslage hoffentlich stabil auf Stufe 5 eingependelt.

Die trockene Winterluft brennt auf den Nasenschleimhäuten und knistert in der Lunge. Auf dem Weg zu meinem Fahrrad passiere ich Ali’s Kebabtempel. Die Räumlichkeiten haben den Charme einer Besenkammer und als ich sie betrete, schlägt mir das Aroma von Frittenfett und Subversion entgegen. Ali sitzt im Hinterzimmer und raucht und es dauert eine Weile, ehe er meine Anwesenheit bemerkt. Er steht auf, streicht seine fleckige Schürze glatt und nickt mir zu. Ali ist ein Winnertyp, nur ohne Siege, und in diesem Punkt sind wir uns ähnlicher als mir lieb ist.
Als ich das Kleingeld in meinem Portemonnaie zähle und bestürzt feststelle, dass der gekühlte, zuckerfreie Red Bull, auf den ich mich so gefreut habe, exakt vier Cent zu teuer ist, verspüre ich das dringende Bedürfnis irgendetwas kaputtzumachen oder so laut zu schreien, dass das Glas von Ali’s Salattheke zerspringt. Aber ich kann ja nicht einmal den dämlichen Red Bull bezahlen. Da kämen die Reparaturkosten von Ali’s Salattheke einem finanziellen Selbstmord gleich. Also beherrsche ich mich und belasse es bei einem gequälten Lächeln.
»Nur Vollassis unterwegs heute«, murmelt Ali schließlich und ich bin nicht ganz sicher, ob seine Aussage an mich adressiert ist, oder ob er sich damit auf den Falschparker von vorhin bezieht. Wahrscheinlich meint er uns beide. »Hast Recht. Scheiß Tag heute.« bestätige ich mit dem Selbstvertrauen eines Gesetztestreuen Marshmallows und Ali wirft mir einen konspirativen Blick zu. Es ist ein Blick, der sprechen kann – in einer Sprache, die nur wir zwei verstehen …

(to be continued)

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BEGEGNUNGEN

Das sehnsüchtige Licht der Abendsonne malt krumme Schatten an die verglasten Schaufensterfronten des Kudamms. Ich lehne mich zurück, schiebe mir eine Zigarette zwischen die Lippen, zünde sie an, blase kleine, graue Kringel in den Wind und warte. Vor mir auf dem Tisch liegt ein zerfledderter Spiralblock mit umweltfreundlichem Papier. Der Hersteller dieses Spiralblocks unterstützt die Arbeit des „WWF“ in Deutschland – das sagt zumindestens die Kennzeichnung links über dem Scancode. Zu meiner Linken steht ein Frappucino – im obligatorischen Plastikbecher. Während ich mit dem Strohhalm in der zähflüssigen Mischung aus Diätmilch, Espresso, Eis und Süssstoff herumrühre, lausche ich dem Grundrauschen des Berliner Feierabendverkehrs. Es ist ein klassisches Großstadt-Grundrauschen. Eine unverkennbare Mischung aus Motorengeräuschen, 10 cm hohen Pfennigabsätzen die den Asphalt bearbeiten wie ein Presslufthammer, sowie einem Stimmengewirr, welches alle Sprachen dieser Erde in sich zu vereinen scheint. Diese Ton gewordene Anonymität ist ein hervorragender Soundtrack für die spezielle Form des Wartens, die ich gerade praktiziere. Ich weiss nicht genau worauf ich eigentlich warte, bin mir aber sicher, dass sich das Warten lohnt. Das war bisher immer so.
Es ist 18Uhr30. Meine Gedanken stehen im Synapsenstau. Hinter mir hupt die Sehnsucht und vor mir schaltet die Angst entnervt den Motor aus um Sprit zu sparen…
Ich leere meinen Frappucino und versuche mich auf das Außen zu konzentrieren:
Der Menschenfluss vor meinen Augen birgt etwas beruhigendes in sich und während ich dort rauchend vor der Starbucks Filiale neben dem Kempinski sitze und auf das große Garnichts warte, nähern sich meine Gedanken langsam aber stetig der rettenden Autobahnabfahrt…
Der Menschenfluss plätschert beständig an meinem Tisch vorbei. Ich merke nicht wirklich, dass sich mein Blickwinkel verändert, aber ich realisiere plötzlich wie stereotyp die Vielfalt sein kann. Und dann… Dann erkenne ich die Struktur im Chaos. Ich lausche der Stille im Lärm und genieße die Fülle in der Leere. Der Stau in meinem Kopf hat sich aufgelöst und ich lasse die Abfahrt an meiner imaginären, herunter gekurbelten Scheibe vorüberziehen und cruise lässig weiter in Richung Nirgendwo – in der Hoffnung dort Inspiration zu finden. Und irgendwann lehne ich mich zurück lasse das Lenkrad los. – Nur für diesen Moment; dieser eine Moment, in dem das Mosaik des Lebens ein Bild ergibt. Dieser Moment in dem Unmögliches möglich wird. Der Moment in dem Innen und Außen miteinander verschmelzen, um den Inbegriff einer vollkommenen Klarheit zu gebären…
Die rauchige Männerstimme, die mich auf meiner Gedankenautobahn zunächst ziemlich dreist überholt und mir anschließend mit lautem Gehupe und eingeschaltetem Blinklicht deutlich macht, dass ich rechts ran fahren soll, gehört einem schlacksigen Mittdreißiger. Sein zierlicher Oberkörper steckt in einem weißen Hemd und am Bund seiner verwaschenen Skinny-Jeans sind dunkelbraune Hosenträger befestigt. „Ist hier noch frei?“ Er deutet auf den leeren Stuhl mir gegenüber und ich nicke, während ich beginne sein Gesicht zu studieren. Die gepiercten Ohren werden von tiefschwarzen Elvis-Koteletten gesäumt und seine bernsteinfarbenen Augen sind von einer kantigen Nerd-Brille umrahmt. Er setzt sich, beugt sich nach links und hantiert in Stuhlbein-Höhe mit einem violetten Lederriemen herum. Als ich meinen Blick gen Boden richte, um heraus zu finden, was es mit besagtem Lederriemen auf sich hat, schüttele ich unwillkürlich den Kopf und sehe ein zweites Mal hin, um mich zu versichern, dass mir meine Wahrnehmung keinen Streich gespielt hat. Das Bild das sich mir bietet ist gleichsam grotesk wie erheiternd und ich weiß nicht recht, ob ich lachen, mir an die Stirn tippen oder den nächsten Tierschutzverein anrufen soll. Letztendlich tue gar nichts. Ich bleibe lediglich wie angewurzelt auf meinem Stuhl sitzen und schaue in die kohlrabenschwarzen Knopfaugen eines ausgewachsenen Minischweines. Das Tier hat es sich zu den Füßen seines Herrchens gemütlich gemacht und gluckst in seiner Wonne vor sich hin. „Das ist Mr.Pink.“ höre ich die rauchige Stimme des bebrillten Mannes sagen und nachdem ich mich mit der Selbstverständlichkeit, mit welcher mir die Nerdbrille sein Hausschwein vorstellt, arrangiert habe, muss ich grinsen. Offenbar hat die Nerdbrille einen guten Filmgeschmack. Das schafft Vertrauen. Das schafft eine gute Basis für ein tiefergehendes Gespräch. „Ein ziemlich treffender Name für ein Schwein.“ konstatiere ich trocken und als ich noch ein vielsagendes: „Da schwingt die Coolness im Subtext mit…“ hinzufüge, lacht die Nerdbrille laut auf und streichelt Mr.Pink über seinen kahlen Körper. „Wir verstehen uns.“ meint er schließlich und seine Sympathie ist so unverfälscht und echt wie es nur die Sympathie der gemeinsam Einsamen sein kann. Es ist diese kindliche, intuitive, allumfassende Sympathie, die Begegnungen wie dieser innewohnt. Es ist diese anonyme, unkomplizierte Großstadt-Sympathie, die nicht viele Worte braucht um zu sagen was wichtig ist. – Eine Sympathie die zwischen den Zeilen gesäät wird und jenseits des gesellschaftlich gängigen Kommunikationsprofils heranwächst. Eine Sympathie die weder ein Morgen noch ein Gestern kennt…
Und während in den Schaufenstern die Lichter ausgehen, wird das Plätschern des Menschenflusses leiser und die Nerdbrille und ich versinken in einem einvernehmlichen Schweigen. Es ist ein Schweigen, dass beinahe so intim anmutet wie das selige Schweigen nach wirklich gutem Sex. Mr.Pink hat von seinem Herrchen ein Stück Kuchen bekommen und mampft grunzend vor sich hin. Die Stadt wiegt mich in ihren unsichtbaren Armen und eine unbekannte Form der Geborgenheit beginnt meinen Körper zu fluten.
Weil…
Am Ende des Tages sind wir alle gleich. – Ob Penner oder Popstar, Anwalt oder Analphabet, Bohèmian oder Bauerntölpel, Model oder Muttersöhnchen: Am Ende des Tages werden wir alle Eins im Großstadt-Grundrauschen.

(Shirin Vorsmann, Dezember 2014)

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ZWISCHEN DEN WELTEN

Wir schreiben den legendären Sommer 2010 – ein Sommer, der die gängige Interpretation eines deutschen Sommers vollkommen neu interpretiert: Wüstenklima und Temperaturen von bis zu 40 Grad im Schatten. Anlässlich meines 25-sten Geburtstages, beschließt meine Frau Mutter mich mit einem Trip in ein exklusives “Sport – und Wellness” Hotel in Berlin zu beglücken. Der Prospekt verspricht eine Wohltat für Körper und Geist sowie eine Oase der Entspannung. Es gibt personal Training, Power Plate, Pilates, Yoga, eine hochmoderne Sauna Landschaft und noch einige andere – mir bis dato unbekannte, kompliziert klingende – Benefits.
Nach der halbstündigen Einführung in die lokalen Hausregeln empfängt mich ein hochmodernes Apartment mit Wasserfall – Dusche und Whirlpool. Das Surren der Klimaanlage ertrinkt in einer skurrilen Mischung aus Vogelgezwitscher und Meeresrauschen. Auf dem Flachbildschirm flimmern die aktuellen Tagesangebote (Gesichtsbehandlung für 50 Euro, Hot Stone Massage für 80 Euro oder aber eine hawaiianische Lomi Lomi Massage für 100 Euro…), auf dem weißen Designertisch in der Mitte des Zimmers prangt ein rotes Nichtraucherschild und mir wird klar, dass ich für jedes Lungenbrötchen das ich mir einverleiben möchte erst mal einen langen Fußmarsch antreten muss: Könnte eine Weile dauern bis ich den Weg durch das Labyrinth aus Hammam, 3 Fitnessräumen, weiteren Gästezimmern und einem Beauty Spa so groß wie Los Angeles gefunden und mich bis zur Rezeption vorgearbeitet habe, um dann von dort aus vor die Tür des Ladens zu gelangen. So richtig „Wellness – mäßig“ halt…

Das Interieur des Zimmers ist dermaßen steril, dass ich ein wenig Angst habe, mich auf das Bett zu setzen: man möchte schließlich nicht die Tagesdecke zerknittern und dadurch dieses sorgfältig nach Feng Shui-Lehre zusammen gestellte Gesamtkunstwerk aus fließenden Formen und Farben irgendwie beschädigen. Mein Blick fällt auf ein dickes, schwarzes Buch, dass neben einer künstlichen Orchidee drapiert wurde: 60 Seiten bestehend aus diversen Bauplänen (damit man sich in dieser betonierten Oase der Entspannung auch nicht verläuft und rechtzeitig von einem Workout zum Nächsten findet) sowie einer ausführlichen Erläuterung des gesamten Hotelangebotes. So ist das eben: Entspannung braucht eine Bedienungsanleitung.

Als waschechter Fitness-Junkie und Ausdauersportler zieht es mich zunächst einmal in eines der 3 hauseigenen Fitnessstudios. Ich packe meinen MP3-Player ein und freue mich darauf im Takte meiner ausgesuchten „Kick Ass“- Playlist so richtig Gaszugeben. Als ich das Laufband betrete frage ich mich, wozu die riesenhaften Fernseher an den Wänden nützlich sein sollen, wenn jedes Cardiogerät einen eigenen kleinen Flatscreen integriert hat. Combichrist donnern „Fuckmachine“ aus meinen Ohrhöhrern und ich bin für die nächsten 1 ½ Stunden freiwillige Sklavin dieser herrlichen Kalorienverbrennungsmaschine. Die Welt bleibt draußen. Es gibt nur mich, die imaginäre Straße und den Beat. Mein T-Shirt ist bereits nach 30 Minuten durchnässt und es fühlt sich großartig an, wenn mein Körper den ganzen Dreck einer cosmopolitischen “Generation Superstar” aus meinen Poren transpiriert. Der Besuch in der Muckibude ist für mich wie ein Reinigungsritual und gut fürs Gewissen natürlich obendrein. Als ich nach getaner Arbeit wieder auftauche und in der Realität ankomme, werden meine Augen ziemlich unsanft empfangen: die Dame schräg vor mir auf dem Laufband, die ihr Iphone schon seit einer geschlagenen Stunde gemächlich auf der künstlichen Joggingstrecke spazieren führt, beendet mit ihrem Telefongespräch auch ihr Work Out und dreht sich zu mir um. Die Grillhähnchenhaut ihres Gesichtes wird durch pink bepinselte Schlauchbootlippen standesgemäß in Szene gesetzt und um ihren dürren Hals baumelt eine goldene Chanel-Kette. Sie zieht ein Handtuch aus ihrem braunen Louis Vuitton-Täschchen und tupft sich damit vorsichtig den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn. Ihr herablassendes Lächeln entblößt eine Perlenkette von gebleichten Zähnen. Sie kommt auf mich zu, mustert meine tropfnasse Kleidung mit einer Mischung aus Ekel und Mitleid und adressiert mich in artifizieller Paris Hilton Tonlage: „Schätzchen, hast du schon mal darüber nachgedacht, dir deine Schweißdrüsen entfernen zu lassen?“ Ich wische mir durchs Gesicht. „Ganz im Ernst! Es gibt einen sehr guten Chirurgen in Charlottenburg, der macht so was…“ Ich starre sie an. Was soll ich jetzt sagen?! „Oh…that’s hot!“ vielleicht ? Sie seufzt betont besonnen und verabschiedet sich mit einer koketten Handbewegung gen Damenumkleide.

Ein wenig irritiert und außerordentlich unentspannt befinde ich mich wenige Stunden später in der Sauna. Showmeister Igor absolviert seine stündliche Aufguss-Zeremonie. Die Männer sitzen betont breitbeinig und entblößen stolz was niemand sehen will, während die Damen tuschelnd und kichernd auf Igors Luxuskörper starren. Ich schaue in seine Augen und denke mir, dass es ganz schön scheiße sein muss jeden Tag bis zu 12 Mal in der Sauna zu stehen, um kichernden Frauen und dickbäuchigen Playboys mit einem Handtuch heiße Luft zu zuwedeln. Und ich schäme mich. Irgendwie. Zwischendurch muss der gute Igor noch die Duschen putzen, Decken zusammenfalten oder neureiche Yuppies darauf aufmerksam machen, dass man die Rolex bitte vor dem Saunagang ablegen soll…
Da Sauna ja bekanntlich hungrig macht und ich dem Ganzen irgendwie noch eine Chance geben will, hübsche ich mich ausgiebig auf – man soll mir ja nicht nachsagen, dass ich mich von vorneherein vor der erhebenden Erfahrung der totalen Entspannung verschlossen hätte. Dann betrete das weiträumige Bistro. Die Auswahl an Speisen beläuft sich auf eine einzige DIN A5 Seite und wieder einmal wird mir bewusst, dass der Weg zur totalen Entspannung ziemlich lang ist und das er alle Bereiche des menschlichen Organismus’ erst einmal ordentlich fordert, ehe sich das gepriesene Wellnessfeeling einstellt – das Gehirn natürlich inbegriffen. Unter jedem der 6 Gerichte sind in rot die jeweiligen Kcal pro Portion angegeben und es wird ausführlich erklärt, warum einzelne Inhaltsstoffe besonders healthy sind, welche Vitamine sie enthalten und so weiter. „Okay…“ denke ich „…wer so richtig Buddha-mäßig entspannen will, der muss sich sein Essen irgendwie erst mal erarbeiten und einen kurzen ökotrophologischen Exkurs absolvieren, bevor er dann zulangen darf.“ – Macht ja Sinn, wenn man an diese ganze „Askese Nummer“ als Weg zur wahren Erleuchtung und zum inneren Frieden ansieht. Am Anfang dieses Weges sitzt Buddha als personifizierte Erleuchtung auf seinem Stein und meditiert und am Ende des Weges ist dann das magersüchtige Chanel-Model das mit 20 Jahren an multiplem Organversagen verreckt, weil es diese ganze “Askese Nummer” wohl ein bisschen zu genau genommen hat. Es dauert eine Weile bis ich mich entschieden habe. Ist nämlich gar nicht so einfach, wenn man sich bei der Auswahl nicht nach seinem Gefühl, sondern nach Kcal Angaben und Inhaltsstoffen richten muss. Mittlerweile kann man meinen Magen in ganz Berlin knurren hören und als ich dann endlich mein geordertes Gericht vor mir auf dem Tisch stehen habe, bin ich mittelmäßig schockiert: es hat in etwa die Größe eines Atoms und ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich von solch’ einem Portiönchen satt werden soll. Geschmacklich natürlich durchaus orgasmisch was mir hier geboten wird, allerdings auch so teuer, dass ich mir für die Kohle Zuhause locker ein 5 Gänge Menü für ebenso viele Personen im Feinkostladen zusammen stellen könnte – den Magenbitter für die Verdauung inbegriffen. Nachdem ich meine obligatorische Zigarette danach somit auf fast nüchternen Magen und natürlich draußen vor der Tür und im Stehen genossen habe, bin ich nicht nur hungrig sondern mir ist auch noch übel. Es reicht. Ich habe es ja wirklich versucht, aber dieser Hort der Entspannung hat bei mir zu einer derartigen Anspannung geführt, dass ich jetzt dringend einen Tapetenwechsel brauche. Ohne großartig nachzudenken winke ich mir ein Taxi heran und lasse mich zum Görlitzer Bahnhof chauffieren. (Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass ich sowohl physisch wie auch seelisch für mehr als zwei Jahre im Berliner Stadtteil Kreuzberg beheimatet war und dass sich direkt am Görlitzer Bahnhof mein damaliges Lieblingsrestaurant befindet.) Instinktiv hoffe ich irgendwo zwischen den abrissreifen Toiletten, dem Dröhnen der Frozen Strawberry Margarita-Mix Maschine, den ohrenbetäubenden Sirenen der regelmässig vorbeisausenden Feuerwehrkarossen der benachbarten Dienststelle und den vom Straßensmog benetzten Sonnenschirmen auf der Terrasse ein wenig Erdung zu finden und vielleicht sogar ein paar alte Freunde zu treffen. Zumindest was Letzteres betrifft habe ich Glück: als ich mit eingezogenem Bauch ziemlich unbeholfen auf meinen Jimmi Choos in den verqualmten Vorraum stöckele, verliert sich mein Blick direkt in den strahlend blauen Augen meines schwulen Lieblingsbarkeepers und ich habe gar keine Zeit mich so richtig deplatziert und overdressed zu fühlen, denn der blondgelockte 2 Meter Mann lässt ein lautes: „Ick gloobs ja nisch!! Schnecke!! Wat machst du ‘n hier?! Lass’ dich mal drücken!“ durch den Raum hallen und presst mich für ein paar Sekunden fest und herzlich an seine stahlharte Brust. „Weiß nicht…dachte ich schaue einfach mal wieder vorbei und teste mal, ob Danny immer noch so ‘ne göttliche Senfsauce zum Thunfischsalat macht.“ antworte ich etwas unsicher. Barkeeper Chris lächelt, streicht mir väterlich durchs Haar und nickt. „Na, dann setz’ dich ma’ Kleene. Ick mach’ dir gleich mal ‘nen Margarita.“ Ich lächele zurück und hole Luft um etwas zu sagen, doch Chris lässt mich nicht aussprechen: „Ick weeß doch: extra süss und mit geviertelten Limetten.“ Ich nicke wieder und als ich die Terrasse betrete und mich erleichtert unter einem der Sonnenschirme niederlasse, da steigen tausend und abertausend Erinnerungen stoßwellenartig in mir auf. Diese Erinnerungen drohen sich wenig später als salzige Sturzbäche in meinen Augen zu manifestieren und ich presse die Lippen aufeinander, um es nicht soweit kommen zu lassen und überflüssige Sentimentalitäten direkt wieder herunterzuschlucken. Kaum eine Minute später spüre eine Hand auf meiner Schulter. Ich fahre erschrocken herum und blicke in ein engelsgleiches Gesicht; umweht von blondem, langem Haar. Ich brauche ein paar Sekunden um das Mädchen wieder zu erkennen. „Klara?!“ stammele ich ungläubig. „Wie geht’s dir Maus?“ fragt Klara, als sie sich mir gegenüber auf eine Bank setzt und sich eine Zigarette anzündet. Sie trägt ein ziemlich altmodisches Blümchenkleid und ich sehe sie zum ersten Mal ungeschminkt. Hervorstehende Beckenknochen sind anmutigen, weiblichen Rundungen gewichen und dort wo mich damals Amphetamin-verschleierte, tellergroße Pupillen anstarrten sehe ich nun ein paar klares, feuchtes Augenpaar das in einem satten Grün mit der Sonne um die Wette strahlt. „Du siehst toll aus.“ umgehe ich Klaras Frage nach meinem Befinden und sie lächelt mich an. Es ist ein Lächeln, welches die Erde bewohnbar macht. „Na ja… Ich habe 10 kg zugenommen seitdem ich aufgehört habe zu feiern. Aber…” Sie hält kurz inne und ihr Blick changiert irgendwo zwischen Nachdenklichkeit und Träumerei. “Ich bin glücklich.“ beendet sie ihren Satz schließlich mit fester Stimme und ich nicke. „Das sieht man.“ gebe ich zurück und meine es so. „Du siehst aber auch toll aus.“ sagt Klara. Und meint es nicht so. „Du wolltest wohl tussig sagen…“ konstatiere ich und wir lachen. Sie stellt mir ihren neuen Freund vor und nach einem 1 1/2 Stündigen Gespräch über Individualität und der Frage danach, ob dieser Begriff überhaupt eine Existenzberechtigung besitzt, sind sämtliche Vorurteile gegenüber türkischen Migranten aus meinem Gehirn gelöscht. Als ich die miefigen Toiletten betrete um mich ein wenig frisch zu machen sind meine Gedanken voll eines Liedes und ich fange an leise und beschwingt vor mich hin zu singen: „Ich rieche den Dreck, ich atme tief ein und dann bin ich mir sicher wieder Zuhause zu sein.“ Als ich wieder auf die Terrasse zurück kehre und in die güldene Abendsonne blinzele weicht der Westernhagen in meinem Kopf den realen Klängen einer akustischen Gitarre und ich realisiere, dass sich an meinem Tisch ein mittelgroßes Grüppchen gebildet hat, welches einen australischen Bagpacker und seine Gitarre umringt, um ihn gesanglich bei David Bowie’s „The Man Who Sold The World“ zu unterstützen. Ich setze mich dazu, werfe die Jimmi Choos in die Ecke, höre auf den Bauch einzuziehen und während meine nackten Füße mit den Kieselsteinchen auf dem Boden spielen spüre ich das es so etwas wie Anwesenheit gibt. Ich singe, klatsche, tanze ein wenig um den Tisch herum und…ich lasse los.
Jetzt bin ich Buddha. Jetzt bin ich frei.
Danny bringt mir einen Thunfischsalat. Es gibt keine Kalorienangaben und auch keine genaueren Erklärungen über die Zutaten, aber er hat mit seiner Senfsauce ein Herzchen auf meinen Salat gemalt.

Die Sonne ist schon längst ins Unsichtbare hinabgeglitten, als Klara und ihr Freund sich verabschieden. „Ich hab’ ‘ne Woche Urlaub. Wir fahren jetzt ans Meer.“ sagt sie und deutet auf einen rostigen VW Bus am Straßenrand. „Viel Spaß!“ antworte ich und anscheinend kann ich die Bitterkeit in meiner Stimme nicht weg grinsen. „Willste mitkommen, Süße?“ fragt Klara. Ich puste heißen Rauch aus meinen Lungen, drücke die Zigarette aus und ein verstohlener Blick auf mein Handy erinnert mich an meine Mutter: 5 ungelesene SMS und 10 Anrufe in Abwesenheit. Ich schüttele den Kopf. „Sehen wir uns wieder!“ sagt sie und die Tatsache, dass sie diese Frage nicht als Frage, sondern als Aufforderung formuliert erleichtert mich irgendwie. Achmet sitzt bereits am Steuer. Er winkt, lehnt sich aus dem Fenster und ruft mir zu: „Shirin! Es gibt kein richtiges Leben im Falschen!“
Dann hupt er zweimal und tuckert mit röhrendem Motor langsam die Oranienstraße hinauf.
(Shirin Vorsmann, Dezember 2010)

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